Der Schutzengel.

Sylvester-Humoreske von Teo von Torn
in: „Bielefelder General-Anzeiger” vom 2.1.1903


May von Flüeln hing die elgante, in Sezessionsstickerei gehaltene Schlittschuhtasche an den Arm, nickte dem kleinen Einjährigen, welcher ihr die Schlittschuhe angeschnallt und und vorhin auch bei jedem Sturz getreulich und unermüdlich aufgeholfen hatte, freundlich zu und trapste dann den schwanken Steg hinauf, welcher über die unsicheren Randstellen des Teiches zum Ufer führte.

Es war bitter kalt. Ihre Füßchen waren in den dünnen Lederstiefeln wie zu Eis erstarrt. So kräftig sie auch auftrat, sie fühlte es kaum. Nur ein peinigendes Brennen und Prickeln und einen stechenden Schmerz, wenn sie auf einen Stein oder ein Bröckelchen stahlhart gefrorenen Schees trat.

Es tat ihr bereits leid, die Begleitung des drolligen jungen Kriegsmannes abgelehnt zu haben. Er hätte im Restaurant drüben nach einer Droschke telephonieren oder ihr sonst behilflich sein können — — ob sie ihn zu sich rief? Wie hieß er doch gleich —

Sie blieb stehen und hüpfte dann von einem Fuße auf den andern, bis sie auf ein Lachen dicht hinter ihr sich jäh umwandte.

„Wissen Sie, Gnädigste, was Sie da machen? Das ist ein hochinteressantes militärisches Exerzitium: Laufschritt auf der Stelle. Eine äußerst bekömmliche Uebung bei großer Kälte oder sonstigen Stockungen in der Blutcirkulation. Im Uebermaß genossen, hat sie eine Umkrempelung sämtlicher inneren Organe zur Folge, so daß man es bis zu Herzklopfen in den Kniekehlen bringen kann.”

Angesichts der Schmerzen, welche sie ausstand, erschien diese Definition der jungen Dame derart gemütsroh, daß sie, trotz der eben gepflogenen Erwägungen, ihre hochmütigste und abweisendste Miene aufsetzte.

„Sehr interessant, aber — ich hatte gebeten, mich nicht zu begleiten.”

„Das war sehr unrecht von Ihnen. Ich habe Sie zweimal vom Tode des Ertrinkens gerettet, nachdem sie eigensinnig, immer gerade auf die warnenden Strohbesen zugesteuert sind; viermal habe ich Sie aus den Schneehaufen herausgebuddelt und mindestens ein Dutzend Mal aus den verschiedensten Vor- und Rückfällen wieder aufgerichtet — ich meine, daß eine solche Unsumme von Ritter- und Samariterdiensten eine kleine Gefälligkeit Ihrerseits wert ist.”

Das wurde in einem so komisch schmollendem Tone vorgetragen, daß May von Flüeln den abweisenden Ernst nicht mehr festzuhalten vermochte.

„Und was wäre das für eine Gefälligkeit?” fragte sie lachend, indem sie das Näschen in den Muff vergrub.

„Daß Sie meine Begleitung acceptieren!”

„Aber Herr — — —”

„Ruppel. Ernst Ruppel. Einjähriger, zweite Eskadron, Dragonerregiment Karl Alexander. Aufzuwarten!”

„Verzeihen Sie — ich hatte Ihren Namen vergessen.”

„Das ist eigentlich wieder sehr unrecht. Mein Name hat doch wirklich etwas Unvergeßliches sozusagen. Ruppel! Wie das klingt! Also was hatten Gnädige einzuwenden?”

„Daß es sich nicht recht schickt, wenn Sie mich begleiten. Wir kennen uns doch erst ein paar Tage —”

„Das ist kein Grund. Wenn Sie ertrunken wären oder sich beide Beine gebrochen hätten — was sich wirklich manchmal anläßt, denn Sie entwickeln eine kolossale Verve um Hinzuschlagen! — So hätte ich Sie in diesen meinen Armen nach Hause tragen müssen. Andererseits kann ich Ihrem Grunde, der keiner ist, zwei gewichtigere entgegensetzen.”

„Und die wären?” fragte das junge Mädchen amüsiert, nachdem man inzwischen bereits die Chaussee erreicht hatte und nebeneinander herging.

„Zunächst bin ich unsinnig gern in Ihrer Gesellschaft.”

„Das ist kein Grund. Sie können nicht wissen, ob das umgekehrt auch der Fall ist.”

„Stimmt. Allerdings. Aber das Gegenteil anzunehmen, erlaubt mir mein gesundes Selbstbewußtsein nicht.”

Die junge Dame errötete so unmotiviert, daß sie sich selbst darüber ärgerte und ziemlich heftig einwarf:

„Sie sind ein komischer Kauz, Herr — —”

„Ruppel. Ernst Ruppel — der Name sagt genug wohl schon.”

„Es scheint so. Und der zweite Grund?”

„Ja — da muß ich etwas weiter ausholen, Gnädigste. Ich bin nämlich Soldat —”

„Das sehe ich.”

„Nun ja. Und als solcher habe ich mir in dem Vierteljahre meiner militärischen Laufbahn zwar schon eine ganze Menge bedeutender Fähigkeiten angeeignet — nach Ansicht meiner Vorgesetzten aber noch nicht genug. Im einzelnen wenigstens. Man heiße mich, mit meinem Beritt eine feindliche Brigade niederzureiten — mach' ich! Man gebe mir die schwierigsten Probleme des Aufklärungsdienstes — mach' ich! Sollte bei Ausbruch eines neuen Krieges mit Framkreich Hülsen-Häseler unpäßlich sein und Majestät zu mir sagen: Einjähriger Ruppel, hier haben Sie ein Armeekorps und nun legen Sie sich mal fest vor das Loch in den Vogesen — mach' ich! Aber wissen Sie, was ich nicht machen kann? Front machen kann ich nicht. Hol' mich der — — pardon! Ich kann es nicht. Wahrhaftigen Gott nicht. Das muß an meiner Körperhaltung liegen oder woran sonst — ich weiß es nicht. Nun haben wir hier einen General, unsern Brigade­kommandeur, eine Kratzbürste, die der liebe Gott im Zorn erschaffen hat. Der Mann hat ein Faible für das Front machen. Sobald er einen Soldaten zu Gesicht bekommt, paßt er auf, wie ein Schießhund. Steht der Mann nicht tadellos, so wird er zunächst angehaucht und dann auch noch mit einer schönen Empfehlung an den Eskadronchef nach Hause geschickt. Das möchte ich vermeiden.”

Wenn der Einjährige Ernst Ruppel bei diesen Darlegungen nicht mit sich selbst zu sehr beschäftigt gewesen wäre, so hätte die ausgelassene Heiterkeit der jungen Dame ihn vielleicht stutzig gemacht.

„Aber, was habe ich denn damit zu tun?” rief sie, indem sie den schlanken Oberkörper in hellem Lachen vornüberneigte.

„Oh — sehr viel. Eigentlich alles. Sie haben sogar indirekt mein Leben in Ihrer Hand.”

„Huuuuh — —”

„Lachen Sie nicht. Es ist so. Ich habe meine Schlittschuhe beim Eisbahnschlosser zurückgelassen, der sie reparieren soll. Es ist eine Schraube losgegangen — wobei Gnädigste gut und gern auf meine Kosten einen Witz machen dürfen. Folglich habe ich nichts in der Hand. Wenn ich aber nichts in der Hand habe, dann muß ich Front machen, und wenn ich Front mache, dann kann ich eventuell wegen rückfälliger schlechter Haltung beim Front machen eingesperrt werden, und wenn ich eingesperrt werde, so müßte ich bei der Sylvesterfeier im Kasino fehlen, von der gnädiges Fräulein mir erzählten, daß Sie dieselbe mitmachen; und wenn ich heute nacht Schlag zwölf Uhr nicht mein Glas an das Ihre anklingen lassen darf, dann schieße ich mich tot — und wenn ich wegen Mißbrauch der Waffe die größten Unannehmlichkeiten haben sollte. So liegt die Sache, und nun geben Sie mir gütigst Ihre Schlittschuhtasche zum Tragen, dann ist alles in schönster Ordnung.”

„Hier. Ich will Sie nicht auf dem Gewissen haben. Aber Sie treffen doch nicht immer einen Vorgesetzten?”

„Immer. Bei meinem Pech immer. Ich brauche nur einmal ohne Deckung über die Gasse zu gehen — bums laufe ich einem in die Arme. Da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen — — aber das ist gar nicht nötig. Lupus in fabula! Da hinten kommt mein General, der Herr Brigadekommandeur. Ist das nun Pech oder nicht. Ich bitt' Sie — was sucht nun das alte Rauhbein nachmittags um vier Uhr hier auf der Landstraße! Die Welt ist so groß und es gibt eine Unzahl von schönen Gegenden — an der Somaliküste zum Beispiel — aber nein — ausgerechnet kommt er hierher, und wozu? Damit ich Front machen soll. Aber das gibt's nicht, Alterchen, heute nicht, ich habe einen Schutzengel zu meiner Rechten und ein Schutztäschelchen in meiner Linken. Also, los — sechs Schritte vorher in gerader Haltung — — eins — zwei — drei — —”

Es kam anders.

General von Holler blieb stehen, die junge Dame blieb stehen, und dem unglücklichen Einjährigen blieb schließlich auch nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben und mit Grausen zu beobachten, wie der General und sein Schutzengel sich auf dem intimsten Duzfuße begrüßten.

„Na, kleine May — eigentlich wollte ich Dich abholen, aber da Du Begleitung hast — — wohl eine Eisbekanntschaft, was?”

„Ja Onkelchen, Herr — —”

„Einjähriger Ruppel, zweite Eskadron Dragonerregiment Karl Alexander, vom Eislauf zurück.”

Der General nickte, und zwar nicht unfreundlich. Dann aber wurde sein Blick immer ernster und strenger,

„Es wäre mir lieb, mein Kind, wenn Du mich noch ein wenig begleitetest,” sagte er zu seiner Nichte, ohne die kritische Musterung des Einjährigen auch nur eine Sekunde zu unterbrechen. Endlich trat er an ihn heran.

„Danke Ihnen für Begleitung meiner Nichte. Im übrigen aber — wie stehen Sie denn da! Donnerwetter nochmal! Wo haben Sie die freie Hand! Wo die rechte Schulter! Donnerwetter nochmal! Wie heißt Ihr Rittmeister?”

„Rittmeister von Stossow, Herr General.”

„Dann sind Sie also derselbe Einjährige, welcher mir schon einmal durch seine erbärmliche Haltung aufgefallen ist. Exempel statuieren! Donnerwetter nochmal! Zur Stallwache melden für heute Nacht. Verstanden?”

„Zu Befehl, Herr General.”

„Wegtreten. 'N Abend.”

General von Holler war ein sehr strenger Herr im Dienst, aber wie terpentindurchfeuchtetes Wachs in den Händen seiner Damen, namentlich seines Nichtchens, das er in Ermangelung eigenen Kindersegens abgöttisch liebte.

Dennoch hatte May von Flüeln es nicht durchdrücken können, daß ihrem Ritter von der Eisbahn die Strafe geschenkt wurde.

„Ich kann mich doch nicht zum Popanz machen,” hatte der alte Herr gesagt. Der Kerl hat eine Haltung wie der Campanile in Venedig. . . . . . . . . . . . . darf man nicht durchgehen lassen. Sonst ein ganz tüchtiger Mensch. Habe mich nach ihm erkundigt. Auch dehr angesehene und wohlhabende Familie. Oheim mütterlicherseits ist der Minister Franck. Können ihm Pflaster auf die Wunde legen — morgen zu Tisch einladen. Mehr ist nicht zu machen. Basta.”

Das war immerhin etwas. Aber das junge Mädchen war doch noch sehr gedrückt — und ihre Stimmung änderte sich auch nicht, als man im Kasino war. Im Gegenteil. Je mehr die Mitternachtsstunde heranrückte, desto unruhiger wurde sie in all dem Jubel und Trubel.

Es war ja natürlich Unsinn — — antun würde er sich doch wohl nichts. Ein so fideler, lebenslustiger Mensch. Und doch, man konnte nicht wissen! In dem scheußlichen Stall bei den Pferden — alles so trübe und düster — und wenn dann die Glocken läuteten — — — Herr Gott im Himmel, das war ja gar nicht auszudenken!

Was tun?

Angst beflügelt die Erfindung und — endlich! Kaum eine Viertelstunde vor zwölf hatte sie's.

Der Einjährige Ernst Ruppel war eben bei der unfestlichen Beschäftigung, hinter einem alten, an Verdauungsstörungen leidenden Friedrich Wilhelm zum zehnten Male in dieser Nacht die Abgänge mit der reglementsmäßigen Sorgfalt und mit einer unreglementsmäßigen Schaufel wegzuräumen. Stalldünste sind gesund, aber sie stimmen melancholisch, wenn man sie strafweise einatmet und besondere Ursache hat, sich einen anderen Aufenthaltsort vergnüglicher vorzustellen.

Und vielleicht war die verfluchte Geschichte mit dieser Stallwache noch nicht einmal abgetan! Wenn das junge Mädchen auch nur ein Wort von dem verlauten ließ, was er in seinem eselhaften Vertrauen und gottlosen Pech über den General geäußert, dann konnte er nur gleich Harakiri machen oder einen Giftbecher lehren, bestehend aus einem Gemenge von heißem Pech und Glasscherben.

Aber das war ja Unsinn — das würde sie ihm nicht antun. Ein Mädchen mit solchen wundervollen Augen war keine Verräterin. Und doch — man konnte nicht wissen! Die Marquise von Brinvilliers war auch eine sehr hübsche Person gewesen und hatte doch über fünfzig Menschen heimtückisch um die Ecke gebracht.

Ernst Ruppel betrachtete schwermütig den alten Friedrich Wilhelm, welcher wieder so verdächtig mit dem Schweife wippte, und erwog dabei, wie er wohl zu einem Sylvesterpunsch kommen könnte, als eine Tafel-Ordonnanz eilig und heimlich den Stall betrat.

„Der Herr Einjährige —?”

„Bist Du es, Hermann, mein Rabe? Was soll's? — Ist das für mich?”

„Für den Herrn Einjährigen Ruppel. Eine Flasche Sekt und zwei Gläser — und auf dem Etikett steht was drauf! Ich muß weg. Gute Nacht!”

„Gute Nacht, mein Sohn. Hol' mich der Deuwel — eine Pulle Schwarzlackierten! Wer hat an mich gedacht? Und zwei Gläser —? Auf der Etikette soll 'was draufsteh'n — — Schwerebrett, ist das duster hier! Röderer carte noire — eine anständige Marke. Alle Achtung. Aber was weiter — — aha — „Lieber Herr Ruppel — es tut mir so schrecklich leid, daß Sie nicht hier — hier sein können! Aus dem kleineren Becher habe ich ge — getrunken — der andere ist für Sie — zum Anstoßen, wenn es läutet!”

Läutet ! Läutet! Eben läutet es — — —

Mit einer rasenden Geschwindigkeit schlug der Einjährige Ruppel der Flasche den Hals ab. Und —

„Hurrrrah! Prost Neujaaaaahr!!” gellte es durch den Stall, daß die . . . . . . . . . . den Ketten rissen und der alte Friedrich Wilhelm — ohnehin etwas nervös durch sein Magenleiden — wie verdreht hinten und virne ausschlug.

Der Einjährige Ruppel aber trank, trank — — und zwar aus dem kleineren Glase — und er konnte sich beim besten Willen nicht entsinnen, jemals zur Stunde der Jahreswende so glückselig und hoffnungsfroh gewesen zu sein.

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Die unterstrichenen Textstücke sind im „Bielefelder General-Anzeiger” leider nicht gut lesbar. D.Hrsgb.

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